Hörbuch – Audiobook
NOMADS 1 – Die Invasoren
Text
Benjamin und Dominic schlichen sich um Mitternacht aus dem Haus. Sie liefen über die dünne knirschende Schneedecke, die über dem Gras des Gartens lag, und eilten dann über den gefrorenen Acker. Die Furchen, die sich schnurgerade über das Feld zogen, waren hart wie Stein und die beiden jungen Männer stolperten mehrfach. Das schwere Gewehr drückte auf Dominics Schulter. Ohne das harte, tägliche Training durch seinen Drill-Instructor, hätte er bestimmt auf der Hälfte des beschwerlichen Weges aufgegeben. Zum Glück wartete am Ende des Ackers Deonne in ihrem Wagen, um Dominic und seinen Bruder mitzunehmen. Zusammen fuhren sie über den kurzen hügeligen Steifen unbewirtschafteten Landes zum Rand des Waldes, der dunkel und düster bis zur Grenze Kanadas reichte.
„Du willst das wirklich wagen, Kleiner?“, fragte Deonne, die offenbar von Benjamin über Dominics Vorhaben informiert worden war.
Verständlich. Denn schließlich durfte sie nicht im Unklaren bleiben, warum sie diesen nächtlichen Ausflug unternahmen und sofern es bei dieser Unternehmung Probleme geben sollte. Was Dominic störte, war, dass sie ihn “Kleiner“ genannt hatte.
„Ja, ich will das wagen“, antwortete er umso energischer.
Deonne und Benjamin, der am Fenster saß, wechselten einen vielsagenden Blick, während Dominic zwischen ihnen auf der breiten Sitzbank saß. Schließlich sagte ihr Benjamin, sie solle langsamer fahren.
„Sie sind da“, bemerkte er leise. „Mindestens drei von ihnen.“
Der Geländewagen rollte, mit abgeschalteten Motor, am dunklen Waldrand entlang. Irgendwann blieb der Wagen stehen. Die Insassen stiegen aus und schalteten die Nachtsichtdisplays ihrer Waffen ein.
„Sie sind ganz nah“, teilte Benjamin seinem Bruder und Deonne mit. „Sie scheinen unseren letzten Besuch nicht vergessen zu haben und wollen es uns heimzahlen.“
„Bist du dir sicher?“, fragte Deonne. „Sie hätten euer Haus schon angreifen können, wenn sie wollten.“
„Wie kommst du darauf? Sie haben doch gehörig auf die Schnauze bekommen“, gab Benjamin zurück. „Oh nein. Die sind jetzt vorsichtiger. Aber noch genauso gefährlich.“
Sie stiegen aus und spähten durch die Zielmonitore ihrer Waffen. Dominic legte ebenfalls das Gewehr an und richtete den Lauf auf den Wald aus, während er das blau leuchtende Display nicht aus den Augen ließ. „Ich sehe sie. Vier Streuner. Sie kommen näher.“
Dominic schaltete seinen Zielmonitor ab und starrte in die Dunkelheit. Der Vollmond beleuchtete die Landschaft und man konnte die Kreaturen der Keymon gut erkennen, als sie aus dem Schatten des Waldes traten. Lautlos schlichen sie näher. Ihre Pfoten verursachten nicht einmal das leiseste Knirschen auf dem festen Schnee.
Dominic legte das Gewehr auf den Boden.
„Verdammt bist du wahnsinnig?“ Benjamin machte einige Schritte auf die Monster zu, die daraufhin fauchend unter die Bäume zurückwichen.
„Lass mich!“, zischte Dominic. „Es ist deine Aufgabe, mich zu schützen. Konzentriere dich darauf.“
Deonne sagte keinen Ton. Sie kam Dominic weitaus beherrschter und abgebrühter vor, als sein impulsiver Bruder. Er vertraute darauf, dass zumindest sie ganz konzentriert war und ihre Sache gut machen würde.
Für einen Moment wirkte die Szene wie eingefroren. Die Schnüffler regten sich nicht und standen reglos wie Statuen da. Erst nach einer ganzen Weile bewegte sich einer von ihnen wieder vorwärts und kam auf Dominic zu. Kaum hatte sich das Untier ihm auf zwei oder drei Meter genähert, begann die Welt in Dominics Augen zu verschwimmen. Der Schnee zu seinen Füßen und der dunkle Wald lösten sich auf, um zu neuen Formen zu gerinnen. Aus dem Mosaik dunkler Flächen setzten sich nach und nach Konturen und Umrisse zusammen. Eine Form entstand. Schließlich sah Dominic einen gewaltigen Ring aus Gold oder Kupfer, der inmitten der Sterne schwebte. Gewaltige Ausleger stachen von seiner Oberfläche weit ins All hinein. Schiffe hatten daran festgemacht, flogen sie an oder legten gerade von ihnen ab. Aus dem Zentrum des Rings tauchte eine Flotte von Raumfahrzeugen unterschiedlichster Größen und Formen auf. Wie aus dem Nichts erschienen sie und jagten dann davon. Der riesenhafte Ring mochte ein Raumhafen und ein Dimensionsportal sein, strahlend im Licht einer unbekannten Sonne. Das Bild verschwamm abermals. Dominic sah, wie der Rumpf eines Akkatoschiffes auf den Boden einer Wüstenwelt krachte. Mit dem Heck voran stürzte es zu Boden. Der Himmel loderte im feurigen Rot der sinkenden Sonne. Dominic sah eine Schlacht, die in der Ebene tobte, inmitten eines weitläufigen Tales zwischen Tafelbergen aus orangem Fels. Energieblitze zuckten über den Himmel. Explosionen krachten. Die Heere, die im Wüstenstaub aufeinandertrafen, waren in Panzeranzüge gehüllt, feuerten mit Projektil- und Strahlenwaffen aufeinander oder bekämpften sich mit blitzenden Schwertern. Dazwischen stampften Kampfmaschinen auf mechanischen Beinen vorwärts, und bahnten sich ihren Weg durch die Menge kämpfender Soldaten.
Dominic erblickte eine Frau, die in eine eng anliegende und glänzende Rüstung gekleidet war. Sie stand hoch oben auf einem Felsen, umringt von Feinden, die zu ihr hinaufdrängten. Sie kehrte Dominic den Rücken zu und hielt zwei lange Klingen in den Fäusten. Ihre langen blonden Haare, hatte sie zu dünnen Zöpfen geflochten, an deren Enden kleine Klingen glänzen. Mit jeder Drehung ihres Körpers und ihres Kopfes teilte sie tödliche Peitschenschläge aus, während ihre Gegner unter den wirbelnden Schwertern fielen. Sie fuhr herum und Dominic erkannte, dass sie ein junges Mädchen war, gerade erst dem Kindesalter entwachsen. Ihre blaue Augen blickten Dominic kalt und durchdringend an. Es waren große, schöne Augen. Voller Wut und Zorn funkelten sie ihn an.
Die Vision verblasste und Dominic fiel rücklings in den Schnee. Er sah den Vollmond über sich, einige helle Sterne und eilig dahinziehende Wolken. Dann beugten sich sein Bruder und Deonne, mit eher verblüfften als besorgten Gesichtern, über ihn.
„Da laust mich der Affe“, murmelte Benjamin in einer Mischung aus Ärger und Erstaunen. „Ich dachte, die nehmen dich gleich auseinander. Stattdessen hauen sie wieder ab, als hätten sie den schwarzen Mann gesehen.“
„Was war los?“, wollte Deonne von Dominic wissen. Ihre Stimme klang kalt und hart. „Die hatten Angst. Also was ist passiert?“
Vom Eindruck der vergangenen Vision gefangen, sah sich Dominic außer Stande, gleich darauf zu antworten. Er lag eine Weile im Schnee und sah zu, wie die Wolken über den Himmel zogen.
„Eine ferne Welt“, flüsterte er. „Ich habe eine ferne Welt gesehen. Und eine schöne Frau.“
Deonne lachte abschätzig. „Dem geht‘s gut.“
Benjamin half seinem Bruder wieder auf die Beine. „Klingt eher nach einem schönen Traum. Nach einer Wunschvorstellung. Ich muss die ganze Sache mit Schrödinger noch mal überdenken.“
Ihr nächtliches Abenteuer war unentdeckt geblieben und so gab es zumindest keine weiteren Spannungen zwischen Benjamin und seinem Vater. Durch diese Aktion hätte es sich Dominic zu guter Letzt auch noch mit seinem Vater verscherzen können.
Immerhin schien sich Benjamins Laune zu bessern, je näher der Tag von Dominics Abreise näher kam. Er wirkte weniger streitsüchtig und zeigte sich gelassener. Ob es an Dominics Rückkehr lag, dass sich sein Bruder so aggressiv gezeigt hatte. Als Dominic ihn fragte, winkte er ab. Sein Vater und er hätten eben ihre Konflikte, meinte er. Das würde auch so weitergehen, wenn Dominic wieder fort wäre.
„Es ist etwas anderes“, erklärte Benjamin, der gerade mit Holzhacken beschäftigt war, nun die Axt in den Block schlug und die Scheite aufsammelte. „Es liegt an den Streunern.“ Er deutete mit einem Kopfnicken zum Wald hinüber. „Sie haben sich weiter in den Wald zurückgezogen. Womöglich bis hin zum Wrack der Kralle. Ich kann sie jedenfalls kaum noch spüren.“
Dominic sah nachdenklich zu den schwarzen Baumwipfeln hinüber. Leichter Schneefall setzte ein. Die Sicht begann sich zu trüben.
„Entweder ist es ein Zufall“, sagte Benjamin, während er das Holz auf seinen Armen balancierte, um es ins Haus zu tragen, „oder du hast ihnen tatsächlich einen Schrecken eingejagt. Dabei siehst du gar nicht so fürchterlich aus.“
Als der Schneefall dichter wurde, gingen sie ins Haus. Benjamin stapelte die Scheite neben den Kamin und warf einige davon ins Feuer. „Der Winter scheint es jetzt ernst zu meinen.“
Dominic sah das heftige Schneetreiben vor den Fenstern des Wohnzimmers. Die Umgebung des Hauses war nicht mehr zu erkennen. Die Welt hüllte sich vollständig in Weiß. Der Wind heulte und rüttelte an den Fensterläden, während sich die ganze Familie im Wohnzimmer aufhielt, das von der behaglichen Wärme aus dem Kamin erfüllt war. Sein Vater spielte Schach mit Tamara. Die Mutter las in einem Buch, während sie auf dem Sofa lag. Billy beschäftigte sich mit Bauklötzen und Spielzeugautos und ganz in seiner kleinen Welt versunken. Sarah schrieb Nachrichten, angeblich an eine ihrer Freundinnen, und tippte auf dem Display ihres Handcomputers herum. Sie schien Ärger zu haben.
„Wirst du der Kälte in Richtung Merkur entfliehen?“, wollte Benjamin wissen und stocherte mit dem Schürhaken in der Glut herum. „Oder geht es zu den eisigen Einöden der Jupitermonde?“
„Ich habe keine Ahnung“, bekannte Dominic. „Die meiste Zeit werde ich an Bord eines Schiffes sein. Bei exakt zweiundzwanzig Grad Standardtemperatur.“
Benjamin legte das Eisen weg und rieb sich die klammen Hände vor dem prasselnden Feuer. „Ich hoffe, wenn du wieder hier auftauchst, ist es Sommer. Wir könnten das nächste Mal angeln gehen. Wenn bis dahin überhaupt noch alles steht.“
„Ich werde mein Möglichstes tun, um das zu garantieren.“
Benjamin lächelte vielsagend. „Vielleicht triffst du das Mädchen aus deinem Traum und vergisst uns.“